Empörung ist keine Haltung

Empörung hat Konjunktur. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein moralisches Bekenntnis, ein digitaler Aufschrei oder eine kollektive Entrüstung durchs Land geht. Die Erregung ist zur Währung der Gegenwart geworden – leicht verfügbar, sofort wirksam und doch erstaunlich folgenlos.

Was früher ein Ausnahmezustand war, ist heute Dauerzustand: die Empörung als Grundrauschen einer Gesellschaft, die glaubt, mit Haltung zu sprechen, während sie nur reagiert. Denn Empörung ist kein Zeichen von Haltung, sondern oft ihr Ersatz. Sie reagiert, wo Nachdenken gefordert wäre, und wertet, bevor sie versteht.

Wir leben in einer Zeit, in der Lautstärke mit Überzeugung verwechselt wird. Wer schnell urteilt, gilt als konsequent; wer abwägt, als unentschlossen. So entsteht eine moralische Beschleunigung, in der Nachdenklichkeit als Schwäche erscheint. Empörung wird zum Beweis von Integrität – dabei ist sie oft nur ein Reflex auf die Unruhe anderer.

Empörung ist bequem. Sie entlastet vom Denken, vom Zweifel, vom Gespräch. Wer empört ist, muss sich nicht mehr erklären. Aber Demokratie lebt vom Erklären. Vom Versuch, Gründe zu verstehen, nicht Gegner zu besiegen.

Haltung dagegen wächst langsam. Sie braucht Zeit, um sich zu bilden, und Mut, um bestehen zu können. Haltung ist das Gegenteil von Affekt. Sie verlangt die Bereitschaft, auch dann zuzuhören, wenn das Gesagte unbequem ist, und die Fähigkeit, zu unterscheiden, ohne zu verurteilen.

Empörung folgt dem Instinkt, Haltung folgt dem Maß.
Die eine erschöpft sich im Moment, die andere hält ihn aus.
Empörung will Wirkung, Haltung will Wirksamkeit.

Politische Kultur beginnt dort, wo Emotion und Argument auseinandergehalten werden. Wo Menschen nicht in Freund und Feind sortiert werden, sondern in Argumente und Gegenargumente. Eine Gesellschaft, die nur noch reagiert, verliert ihre Fähigkeit zu verstehen.

Haltung ist leiser, aber tragfähiger. Sie verlangt Selbstbeherrschung, wo andere laut werden, und Maß, wo andere verurteilen. Sie ist das Gegengewicht zur moralischen Überhitzung unserer Zeit – und vielleicht das, was uns am dringendsten fehlt: die Fähigkeit, überzeugt zu sein, ohne verächtlich zu werden.

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